Tagesanzeiger.
Roger Nordmann seufzt ins Telefon. «Für mich ist es ein Rätsel, warum diese Technologie in bestimmten Kreisen derart viel Nostalgie auslöst», sagt der SP-Fraktionschef. «Reine Ideologie» sei das alles, «komplett surreal». Er sagt es in einem Tonfall, dass man sein Kopfschütteln am anderen Ende der Leitung zu vernehmen glaubt.
Ideologisch oder nicht: Die Diskussion um die Atomkraft ist mit neuer Wucht lanciert. «Wir müssen weiterhin auf Kernenergie setzen können, sonst haben wir ein gigantisches Problem», erklärte FDP-Präsident Thierry Burkart am Sonntagabend zur besten Sendezeit in der Präsidentenrunde auf SRF. «Nach dem Ja zum Stromfresser-Gesetz: Jetzt braucht es dringend neue Kernkraftwerke», titelte die SVP am gleichen Abend in ihrem Abstimmungscommuniqué. «Einsatz aller klimaneutralen und verlässlichen Technologien», «Aufhebung des Kernkraftverbots», so tönte es beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse.
Die Allianz von Links-Grün bis zu FDP und Wirtschaftsverbänden, die dem Klimaschutzgesetz zum Erfolg verholfen hat, zeigt sich damit bereits wieder entzweit. Und dies über eine Frage, die eigentlich geklärt schien.
Die Atomdebatte brandet seit den 70er-Jahren in Wellen durchs Land. Die letzte intensive Phase: im Jahr 2017. Die Energiestrategie 2050 kam zur Abstimmung. Das Volk hiess die Vorlage gut - und mit ihr den Ausstieg aus der Kernenergie.
Seither dürfen keine neuen Atomkraftwerke mehr gebaut werden. Doch die enormen Herausforderungen des Klimawandels haben der Atomkraft im politischen Diskurs der letzten zwei Jahre zu einem leisen Comeback verholfen. Bis 2050 soll die «Dekarbonisierung» gelingen: die Umstellung auf eine Wirtschaftsweise, bei der die Schweiz nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre ausstösst, als durch natürliche und technische Speicher aufgenommen werden («netto null»).
«Es geht einfach nicht anders»
Die Kernspaltung – so sehen es ihre Unterstützer – als verlässliche und umweltfreundliche Methode der Stromproduktion soll ihren Beitrag leisten. «Wir schaffen netto null bis 2050 nur mit Kernkraftwerken – es geht einfach nicht anders», sagt der Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser. «Wir brauchen mehr Strom, und die Lücke beim Winterstrom ist ohne Kernkraft zu gross. Die Sonne scheint nicht immer, und auch der Wind bläst nicht immer.»
Im Wesentlichen geht es den Atomfreunden um zwei konkrete Ziele. Die Lebenszeiten für die bestehenden Reaktoren verlängern. Und Ersatz für die bestehenden Anlagen.»
Für SP-Fraktionschef Nordmann zielt die ganze Diskussion ins Leere. «Viele wissen nicht, wovon sie reden, wenn sie vor Stromlücken warnen.» Wenn man die erneuerbaren Energien wie vorgesehen ausbaue, sei der Importbedarf im Winter künftig nicht grösser als heute. Etwa drei Monate im Jahr scheine die Sonne zu schwach – das sei aber genau die Zeit, in der besonders viel Wind blase. Auch Wasserkraft und Gas aus erneuerbaren Quellen könnten ihren Beitrag leisten.
Es gibt Bürgerliche, die es ähnlich sehen wie Nordmann, etwa die Mitte-Nationalrätin Priska Wismer-Felder. Sie findet, mit der Atomdebatte werde den Leuten «Sand in die Augen gestreut». Das Volk habe sich gegen neue AKW ausgesprochen. Es gelte jetzt, die konkreten Aufgaben beim Ausbau der Erneuerbaren zu lösen.
Stromkonzerne nicht interessiert
Doch es gibt in der Mitte-Partei auch andere Stimmen. Und sie könnten in der Atomdiskussion am Ende entscheidend sein. So sagt der Innerrhoder Ständerat Daniel Fässler: «Das Problem ist, dass wir die Stromproduktion deutlich erhöhen müssen, um die Dekarbonisierung zu schaffen und das Bevölkerungswachstum aufzufangen. Ich bin sehr skeptisch, ob uns das mit den bisherigen Beschlüssen gelingen wird.» Der Ausbau werde zu sehr gebremst, sagt Fässler – und verweist als Beispiel auf die Bestimmungen zu den Restwassermengen bei Stauseen. «Ich möchte eigentlich keine neuen Atomkraftwerke mehr, aber es ist leider nicht mehr auszuschliessen, dass wir sie künftig weiterhin brauchen werden.»
Falls jedes Wasser- und Windkraftprojekt mit Einsprachen blockiert werde, «wäre dies wie der rote Teppich für die Kernkraft», sagt auch Fässlers Fraktionskollege, der einflussreiche Walliser Ständerat Beat Rieder. «Vermutlich werden wir bereits in zwei, drei Jahren eine erste Bilanz ziehen können.»
Das AKW-Verbot kippen: Das fordert auch eine neue Volksinitiative, die in einigen Jahren zur Abstimmung gelangen könnte. Doch selbst wenn die Politik und das Volk neue AKW erlauben sollten, zeigen sich die Stromkonzerne nicht interessiert. «Investitionen in neue Kernkraftwerke sind derzeit kein Thema für Alpiq», hält Sprecherin Aline Elzingre-Pittet klipp und klar fest. Für solche Projekte liessen sich kaum Investoren und Banken finden. Auch die Axpo hält das finanzielle Risiko für zu hoch. Und BKW-CEO Robert Itschner kann sich nicht vorstellen, wie man ein Kernkraftwerk durchbringen will, wenn selbst kleinere Windkraftanlagen mit Einsprachen verzögert werden.
Ein längeres Leben für AKW
Aussichtsreicher, aber ebenfalls hochumstritten ist das zweite Ziel von FDP und SVP: die Laufzeiten der AKW zu verlängern. So könnten sie den Atomausstieg hinausschieben. Und je länger die Meiler laufen, desto weniger fehlt es an Strom, der anderswoher kommen muss.
Das gefällt auch Bundesrat Albert Rösti (SVP). Mehrfach schon hat er sich zu diesem Ziel bekannt, zuletzt am Sonntag auf Radio SRF: Man werde darauf achten, dass die Atommeiler «möglichst länger laufen können – dass wir länger in dieser Kernkraft bleiben können, solange die Sicherheit gewährleistet ist».
Länger, länger, länger. Gegenwärtig plant man in Fachkreisen damit, dass die AKW rund 60 Jahre laufen – auch wenn die Schweiz keine fixe Laufzeit kennt und die Sprachregelung «so lange wie sicher» lautet. Rechnet man mit diesen 60 Jahren, so gehen Beznau I und II in den Jahren 2029 und 2031 vom Netz, Gösgen 2039 und Leibstadt 2044.
Es kommt auf Röstis Angebot an
Nun lässt sich aber durchaus beeinflussen, wie lange ein Atomkraftwerk als sicher gilt. Das ist auch eine Frage des Nachrüstens und damit des Geldes. Unter Umständen, so beteuern Experten, liessen sich Gösgen und Leibstadt auch 80 Jahre betreiben. In den USA wurden bereits entsprechende Gesuche genehmigt.
Gratis ist dies aber nicht zu haben. Und es stellt sich die Frage, ob die Betreiber das wollen. «Sollten dereinst versorgungs- und betriebswirtschaftliche Interessen gegenläufig sein, wäre eine entsprechende politische und gesellschaftliche Diskussion zu führen», hält die Axpo fest. Ihr gehören die beiden Werke in Beznau sowie ein grösserer Anteil am AKW Leibstadt. Auch die Alpiq, die bei Gösgen geschäftsführend ist, will die «politischen Rahmenbedingungen in den nächsten Jahren» abwarten.
Will heissen: Es kommt je nach Strompreisentwicklung auf Röstis Angebot an. Er könnte zum Beispiel Subventionen für garantierten Winterstrom offerieren. Oder eine Entlastung bei den Einzahlungen in den Stilllegungs- und Entsorgungsfonds. Beide Vorschläge stammen von der FDP.
Röstis Energiedepartement hofft freilich, dass keine finanzielle Unterstützung nötig sein wird. Die Betreiber würden sich ein «stabiles regulatorisches Umfeld» wünschen. «Ein Langzeitbetrieb ohne finanzielle Unterstützung des Bundes dürfte aber wirtschaftlich möglich sein», so Uvek-Sprecherin Emanuela Tonasso.
Ist es alles «komplett surreal», wie Roger Nordmann meint? Der Sozialdemokrat ist überzeugt: «Niemand in der Branche hat ein Interesse, in Atomkraft zu investieren.» Und trotzdem: Es wird wieder diskutiert – so intensiv wie seit Jahren nicht mehr.