Tagesanzeiger. Das Schreckensszenario ist nicht eingetroffen: Es mangelte diesen Winter in der Schweiz weder an Strom noch an Gas. Energieminister Albert Rösti und Wirtschaftsminister Guy Parmelin haben am Donnerstag in Bern Bilanz gezogen.
Das Ziel für den kommenden Winter ist klar: Es gilt aufs Neue, eine Energiemangellage zu vermeiden. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Zum anderen sind die Schweizer Speicherseen nach dem milden Winter immer noch vergleichsweise gut gefüllt – ebenso wie die Gasspeicher in der EU. Dennoch gibt der Bund keine Entwarnung für den kommenden Winter. «Es wäre falsch, jetzt die Hände in den Schoss zu legen», sagte Rösti. Es sei weiterhin unklar, wie viele der französischen Atomkraftwerke im kommenden Winter Strom liefern würden. Zudem sei unsicher, ob die europäischen Gasspeicher über den Sommer ausreichend gefüllt werden könnten, weil die Nachfrage nach Flüssiggas auch in Asien ansteige.
Und der kommende Winter werde wohl kälter ausfallen als der aussergewöhnlich milde vergangene Winter. «Wir dürfen sicher nicht sagen, jetzt ist alles in Ordnung», sagte Rösti.
Was hat die Energiespar-Kampagne gebracht?
Im Zuge der Energiekrise hat der Bund ambitionierte Sparziele für den Winter ausgegeben: minus 15 Prozent beim Gas, minus 10 Prozent beim Strom. Die Bilanz fällt gemischt aus. Beim Gas wurde das Ziel übertroffen, beim Strom dagegen klar verfehlt.
Eigentlich hätten Wirtschaft und Bevölkerung von Oktober 2022 bis März 2023 3153 Gigawattstunden Strom einsparen sollen – eine Menge, die 10 Prozent des durchschnittlichen Verbrauchs in diesen sechs Monaten der letzten fünf Jahre entspricht. Erreicht wurden 1252 Gigawattstunden, also nur 40 Prozent des Ziels. Diese Menge entspricht etwa dem jährlichen Stromverbrauch des Kantons Basel-Stadt. Am grössten war die Einsparung im Oktober (–7,1 Prozent), am geringsten im Dezember (–2 Prozent). Immerhin scheint die Winter-Energiespar-Initiative des Bundes nicht wirkungslos verpufft zu sein: Vor deren Lancierung Ende August wurde – je nach Monat – kein oder kaum Strom gespart.
Besser sieht das Ergebnis beim Gas aus. Ziel war, von Oktober 2022 bis März 2023 3997 Gigawattstunden einzusparen, tatsächlich waren es 5547 Gigawattstunden. Das Sparziel wurde damit um 40 Prozent übertroffen. Das ist viermal mehr, als der Kanton Basel-Stadt pro Jahr an Gas verbraucht. Am grössten war die Einsparung im Oktober (–39,2 Prozent), am geringsten im März (–13,9 Prozent).
Ein Grossteil des Gasverbrauchs ist stark witterungsabhängig. Weil das Winterhalbjahr überdurchschnittlich warm war, wurde weniger Gas zum Heizen benötigt. Hinzu kommt: Rund 60 Prozent der 800 Betreiber von Zweistoffanlagen – also Anlagen, die mit Gas oder Öl betrieben werden können – sind der Empfehlung des Bundes gefolgt und haben auf Öl umgestellt. Diese Umstellung von Gas auf Öl hatte nach Einschätzung des Bundes einen grossen Effekt: Insgesamt schrumpfte der Gasverbrauch der Schweiz im Winterhalbjahr um 23 Prozent, 15 Prozentpunkte davon dürfte allein die Umstellung der Zweistoffanlagen ausgemacht haben.
Darüber hinaus haben die gestiegenen Gaspreise zur Verbrauchsreduktion beigetragen – dasselbe gilt beim Strom.
Viele Städte, Gemeinden und Arbeitgeber hatten sich an der Kampagne beteiligt. Vielerorts wurde im Winter die Strassenbeleuchtung früher als üblich abgedreht oder die Temperatur in öffentlichen Gebäuden sowie an Arbeitsplätzen gesenkt. Nun heben viele Städte zumindest einen Teil der Massnahmen wieder auf: In Winterthur etwa werden seit kurzem Büros, Schulen und Hallenbäder wieder normal beheizt.
Welche Massnahmen plant der Bund für den kommenden Winter?
Zum einen soll die Energiesparkampagne, an der sich auch Kantone, Städte und Gemeinden beteiligt haben, weitergeführt werden. Die Ziele, den Gasverbrauch um 15 und den Stromverbrauch um 10 Prozent zu senken, dürften für den kommenden Winter weitgehend unverändert bleiben, sagte Rösti am Rande der Medienkonferenz.
Um eine mögliche Mangellage zu verhindern, setzt der Bund weiterhin auf fossile Reservekraftwerke, von denen bereits einige zur Verfügung stehen. Auch die Winterstromreserve, bei der Energiekonzerne dafür bezahlt werden, Wasser in ihren Stauseen für den Notfall zurückzubehalten, soll es wieder geben. Die Details dafür werde die Regulierungsbehörde Elcom im Sommer bekannt geben. Er gehe jedoch davon aus, dass die Winterstromreserve etwa den Umfang des letzten Winters haben werde, sagte Rösti. Bislang wurde sie nicht gebraucht.
Zudem will Rösti die Kapazitäten bei den Notstromgruppen ausbauen, bei denen sich die Besitzer von Notstromaggregaten – oft Firmen – vertraglich dazu verpflichten, im Ernstfall Strom zur Verfügung zu stellen.
Was schlagen Energiepolitiker vor?
Energiepolitiker resümieren, der Bund habe die Aufgabe unter dem Strich gut gemeistert. «Wir haben den Winter besser überstanden als erwartet », sagt Ständerat Damian Müller (FDP). «Auch weil der Bund schnell und gezielt reagiert hat.» Müller vermisst mit Blick auf das Energiesparen Massnahmen, die über die Sparkampagne hinausgehen. «Die Bevölkerung wäre durchaus bereit, im Winter mehr einzusparen, wenn das finanziell etwas belohnt wird», zeigt sich Müller überzeugt. Es gelte, entsprechende finanzielle Anreize einzuführen. Müller will in der Energiekommission (Urek) des Ständerats eine Diskussion dazu anregen.
Verbesserungspotenzial sieht auch Nationalrat Bastien Girod (Grüne). Er plädiert dafür, die Wasserkraftreserve von heute rund 0,5 auf 2 Terawattstunden zu vergrössern. Zudem sollen die Stromunternehmen neu zur Teilnahme an der Reserve verpflichtet werden. Diesen Winter war sie freiwillig. Der Nationalrat hat diesen Vorschlag in den Mantelerlass aufgenommen. Nun ist der Ständerat am Zug. Damit diese Massnahme bereits im kommenden Winter wirkt, muss er sie für dringlich erklären.
Nationalrat Roger Nordmann (SP) sagt, auf kurze Frist sei die Schweiz ziemlich gut aufgestellt. Entscheidend seien die Massnahmen, die mittelfristig wirkten. Er meint etwa verstärkte Massnahmen zur Steigerung der Stromeffizienz, wie sie der Nationalrat im Mantelerlass vorsieht. Aber auch den raschen Ausbau der erneuerbaren Energien, wie es das Parlament mit dem Solarexpress bereits beschlossen hat und mit dem Windexpress plant.
Was heisst das für die Strom- und Gaspreise?
An der Börse sind Strom und Gas derzeit deutlich günstiger als vor einem Jahr, weil sich die Lage an den Energiemärkten entspannt hat. Davon profitieren derzeit vor allem Grosskunden aus der Industrie, die dort einkaufen.
Privathaushalte bekommen Veränderungen bei den Energiepreisen zeitverzögert zu spüren: Der Strompreis wurde erst mit Anfang des laufenden Jahres für viele Haushalte deutlich teurer. Von den fallenden Preisen an der Börse können Privatverbraucher also vorerst nicht profitieren. Beim Gas ist das leicht anders: Hier geben die Anbieter die sinkenden Preise – je nach Lieferant – rasch weiter.
Die massiven Preisanstiege in den vergangenen eineinhalb Jahren haben auch die Schweizer Stromversorger in Turbulenzen gebracht. Zuerst musste Alpiq um Staatshilfe ansuchen, zog den Antrag aber kurz darauf zurück. Im Sommer schliesslich stand der grösste Schweizer Versorger Axpo mit dem Rücken zur Wand. Der Bund hatte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen vier Milliarden Franken umfassenden Schutzschirm für die Konzerne aufgespannt. Bislang mussten sie diesen jedoch nicht in Anspruch nehmen.
Mit dem Schutzschirm dürften die Schweizer Versorger erst mal gut gerüstet sein, sollte es zu weiteren Verwerfungen am Energiemarkt kommen. Mit Axpo, Alpiq und BKW schreiben die drei grössten Vertreter der Branche zudem wieder Gewinne.