NZZ am Sonntag.
Vor drei Jahren schien ein Ruck durch die Energiewelt zu gehen. Unter der Leitung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga setzten sich Politiker, Stromfirmen und Umweltverbände an einen runden Tisch, um beim Ausbau der Wasserkraft die Bremsen zu lösen. Das Ziel: Es sollten rasch 2 Terawattstunden (TWh) Stromproduktion zugebaut werden.
Bedenkt man, dass die Schweiz heute im Jahr rund 60 TWh Strom verbraucht, scheint das wenig zu sein. Nur: Es handelt sich um besonders wertvollen Winterstrom. Also um Strom, der genau dann zur Verfügung steht, wenn es in der Schweiz knapp werden kann in der Versorgung. Unter den 15 am runden Tisch diskutierten Projekten gibt es eines, das alle überstrahlt: Es nennt sich Gornerli und wird von der Grande Dixence SA, deren Hauptaktionärin Alpiq sowie der Gemeinde Zermatt vorangetrieben. Es soll allein einen Drittel der Winterstrommenge liefern.
Lösung für das «Winterloch»
«Das Projekt Gornerli ist sehr wichtig für das Schweizer Energiesystem», sagt Amédée Murisier, der Leiter Wasserkraftproduktion bei Alpiq. In der Schweiz und im Süden Europas wird die Solarenergie künftig eine zentrale Rolle spielen. Sie produziert im Winter aber deutlich weniger. Zwar könnten dann auch Kohle- und Erdgaskraftwerke einspringen. Aus Klimaschutzgründen kommen sie künftig aber nicht mehr infrage, um dieses «Winterloch» zu füllen, wie Murisier es nennt.
Zermatt stehe hinter dem Projekt Gornerli, erklärt Gemeindepräsidentin Romy Biner-Hauser. Es diene nicht nur der Stromversorgung. «Es löst auch unsere Probleme mit dem Hochwasserschutz und der Trinkwasserversorgung, welche durch den Rückzug der Gletscher entstehen.» Dieser verstärkt unter anderem die Hochwassergefahr. Laut Biner-Hauser würde nicht nur Zermatt profitieren. Sondern auch die Gemeinden im Vispertal, das bis ins über 30 km entfernte Visp reicht.
Trotz der Bedeutung des Projekts gibt es Widerstände. Kritik gab es bereits vom Landschaftsschutz. Nun kommen Differenzen zwischen den Projektanten und dem Kanton Wallis hinzu. Der Grund dafür ist die sogenannte Konzession.
Kraftwerke dürfen das Wasser nur nutzen, wenn ihnen die Standortgemeinden und Kantone eine Konzession gewähren, wofür sie unter anderem einen Wasserzins erhalten. Aus Sicht von Alpiq-Experte Murisier ist das beim Projekt Gornerli kein Problem, denn eine Konzession gebe es bereits: jene für die im gleichen Gebiet gelegenen Wasserfassungen und Pumpstationen der Grand Dixence.
Vereinfacht gesagt, macht das Projekt Gornerli nichts anderes als zusätzliches Wasser aus dem Einzugsgebiet dieser gigantischen Wasserkraftanlage zwischenzuspeichern. Dabei handelt es sich um Wasser, das bereits heute über bestehende Infrastrukturen in den Lac des Dix fliesst, den grössten Stausee der Schweiz. Doch sogar dieser ist zu klein, um alles anfallende Wasser aufzunehmen. Dadurch geht es für die Stromproduktion im Winter verloren. Dank dem Projekt Gornerli liesse sich nun im Sommer ein erheblicher Teil dieses Wassers für die kritischen Wintermonate zwischenspeichern.
Auch Gemeindepräsidentin Biner-Hauser sagt: «Das Projekt Gornerli kann aus unserer Sicht im Rahmen der bestehenden Konzession umgesetzt werden.» Die Unterstützung der Gemeinden ist wichtig, denn im Wallis kommt ihnen bei Kraftwerkprojekten eine wichtige Rolle zu. Sie sind Eigentümerinnen des Wassers und vergeben die notwendige Konzession, die danach vom Kanton abgenommen werden muss.
Nur: Im Kantonshauptort Sitten lautet die Meinung anders. Der Kanton geht davon aus, dass das Projekt eine neue Konzession benötigt. Es ist unklar, warum das so ist, denn er liess mehrere Anfragen der «NZZ am Sonntag» unbeantwortet.
Offenbar gibt es vor allem zwei Gründe dafür, weshalb die Kantonsvertreter die Lage anders einschätzen als die Projektanten. Der erste: Der Kanton Wallis will sichergehen, dass keine juristische Angriffsfläche entsteht. Ist die Regelung der Konzession bei einem Projekt rechtlich nicht wasserdicht, bietet das Gegnern – zum Beispiel Umweltorganisationen – die Möglichkeit, das Vorhaben mit Klagen zu stoppen.
Der Kanton scheint davon auszugehen, dass diese Gefahr zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, wenn auf Basis der bestehenden Konzession geplant wird. Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die abweichende Haltung des Kantons. Zusammengefasst lautet er so: Konzessionen laufen nicht ewig. Sie fallen üblicherweise nach 80 Jahren an den Kanton und die Gemeinden zurück, ein Vorgang, der «Heimfall» genannt wird. Kantone und Gemeinden können dann grosse Teile der Anlagen unentgeltlich übernehmen.
Bei der Anlage Grand Dixence wird das 2044 der Fall sein, also in knapp zwanzig Jahren. Das klingt nach viel, in der Welt der Wasserkraft ist das aber übermorgen: Verhandlungen über neue Konzessionen dauern zehn Jahre oder mehr.
Der Kanton will mittun
Der Kanton Wallis hat zudem seit zwei Jahren eine neue Strategie, wie er bei Heimfällen vorgehen will. Künftig sollen der Kanton und die Standortgemeinden die Mehrheit an den Kraftwerken halten. Und nicht mehr – so wie heute – die Elektrizitätswerke aus dem Mittelland. Der Kanton Wallis stellt sich darum offenbar die Frage, ob er so kurz vor Ablauf der Konzession ein solch bedeutendes Projekt noch durchwinken soll – oder ob er nicht bereits heute seine Hand darauflegen will. In der Strombranche ist bekannt, dass der kantonseigene Energieproduzent Forces Motrices Valaisanne (FMV) gerne eine deutlich aktivere Rolle bei solchen Projekten spielen würde.
Alpiq andererseits macht kein Geheimnis daraus, dass das Unternehmen und seine Partner das Gornerli-Projekt gern selbst realisieren würden. «Es ist für uns kommerziell interessant», bestätigt Amédée Murisier. «Neue Kraftwerke, die im Winter helfen können, Situationen der Knappheit zu verhindern, werden künftig sehr gefragt sein», sagt er.
Doch die Zeit drängt. Schon 2030 soll dank der 85 m hohen Staumauer Strom fliessen. Die Diskussionen um die Konzessionen «beschleunigen das Projekt leider nicht», sagt Murisier. Aus seiner Sicht ist es kaum möglich, für das Gornerli-Projekt eine neue Konzession zu erlassen. Alpiq sei jedoch offen für eine Lösung. «Wir stehen mit dem Kanton Wallis im konstruktiven Austausch, um eine gemeinsame Sicht zu entwickeln. Letztlich haben wir dasselbe Ziel», sagt Murisier.
Die Zermatter Gemeindepräsidentin Biner-Hauser sagt, sie habe Verständnis dafür, dass der Kanton eine andere Sichtweise habe. Für sie ist aber klar: «Das Projekt, das jetzt auf dem Tisch liegt, wäre eine Ideallösung für Zermatt, das Wallis und die Schweiz.»