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Die Wüste beginnt bereits wenige Kilometer vor den Toren von Dalat, einem trostlosen Nest im Westen der Inneren Mongolei. Scheinbar endlose Sanddünen erstrecken sich bis zum Horizont, kein Baum, kein Strauch, kein Stein ist zu sehen. Und doch ist die Gegend bei Dalat weder einsam noch verlassen, denn hier wird gearbeitet.
Mit schwerem Gerät planieren Arbeiter die Dünen, wenige Meter weiter rammen andere Betonstelzen in den Untergrund. Lkw quälen sich durch den Sand. Sie bringen immer neue Stelzen, die die Fahrer mit einem Kran im Sand ablegen. Schon bald werden Arbeiter Solarmodule auf die Pfeilern montieren.
Weg von fossilen Energieträgern
Am Rande der Grossbaustelle steht Wang Xiaojing, der Vizedirektor der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) von Dalat. «Mehr als 3300 Hektaren haben wir bereits mit Solarmodulen bebaut», sagt Wang stolz und deutet auf die langen Reihen schwarzer Paneele hinter ihm. Und sei erst der Anfang. Bis 2030 soll der Solarpark eine Fläche von 58000 Hektaren bedecken. Am Rande von Dalat entsteht derzeit das weltgrösste Solarkraftwerk, das je in einer Wüste gebaut wurde. Die Bedingungen für das Grossvorhaben sind offenbar günstig. Im Durchschnitt gebe es in der Region 280 Sonnentage pro Jahr, erklärt Wang.
Das geplante Solarkraftwerk bei Dalat ist eines der Aushängeschilder der grünen Energiewende Chinas. Das Riesenreich, das den Grossteil seines Stroms noch immer aus Kohle erzeugt, will den Verbrauch fossiler Brennstoffe reduzieren und die Kapazitäten für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne ausbauen. Die autonome Region Innere Mongolei, wo fast immer ein scharfer Wind bläst und die Sonne nahezu ununterbrochen scheint, soll dabei eine Vorreiterrolle spielen.
Während einer fünftägigen Pressereise, organisiert von der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, wurden einer Gruppe ausländischer Journalisten ausgewählte Projekte gezeigt. Wie bei solchen Reisen üblich, werden den Journalisten in erster Linie Erfolge präsentiert.
Reich dank Bergbau
Die Innere Mongolei ist eine der wichtigsten Provinzen für Chinas Kohleförderung. Nur die Provinz Shanxi, ebenfalls im Norden des Landes gelegen, verfügt über grössere Vorkommen. Und die Kohleförderung hat die Innere Mongolei reich gemacht. So betrug das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in der Provinz im vergangenen Jahr 14300 Dollar; im Landesdurchschnitt lag es bloss bei 12800 Dollar.
Der Reichtum ist sichtbar. In der Nachbarschaft von Ordos im Süden der Provinz, wo nach Regierungsangaben ein Sechstel der chinesischen Kohlevorkommen lagert, haben die Stadtoberen schon vor zwanzig Jahren kurzerhand mit viel Geld eine funkelnagelneue, auf dem Reissbrett entworfene Stadt errichtet. Die breiten Boulevards sind gesäumt von schicken Apartment-Hochhäusern, im Zentrum steht ein Konferenzzentrum mit silbrig glänzender Stahlfassade, daneben eine überdimensionierte Bibliothek. Nur leben wollte in der Stadt niemand. Lange Zeit war Kangbashi, konzipiert für 160000 Einwohner, die bekannteste Geisterstadt der Welt.
Inzwischen wirken Strassen, Geschäfte und Hotels halbwegs belebt: Die örtliche Regierung hat in den vergangenen Jahren Schulen und Hochschulen mit anspruchsvollen Bildungsangeboten bauen lassen, die für die Bewohner Kangbashis kostenlos sind. Das hat einige Menschen dazu bewegt, aus anderen Teilen der Provinz in die Retortenstadt bei Ordos zu ziehen.
Doch der relative Wohlstand der rund 24 Millionen Bewohner der Inneren Mongolei ist teuer erkauft – die jahrzehntelange Kohleförderung hat kaum vorstellbare Umweltschäden angerichtet. In der Inneren Mongolei wird die Kohle im Tagebau gefördert, die ausgebeuteten Minen hinterlassen überall hässliche Krater.
Bei einer Fahrt durch die Provinz geht es stundenlang vorbei an verlassenen Gruben. Die Böden sind ausgetrocknet, denn die Kohleförderung hat den Grundwasserspiegel in den vergangenen Jahrzehnten sinken lassen, und es regnet kaum. Immer wieder wirbelt der Wind die trockene Erde zu Wolken auf. In einem Hotel, in dem die Journalistengruppe übernachtet, kommt kein Wasser aus den Hähnen. «Die Innere Mongolei steht vor enormen Herausforderungen», sagt Ma Jun, Direktor des Institute of Public and Environmental Affairs und einer der bekanntesten Umweltschützer Chinas. Die Provinz trage eine schwere Last, weil sie für die Energiesicherheit Chinas sorgen müsse, sagt Ma.
Im Herbst 2021 und im Sommer vergangenen Jahres hatte China mit gravierenden Engpässen bei der Stromversorgung zu kämpfen. Fabriken im ganzen Land mussten den Betrieb anhalten. Zehntausende Familien sassen zeitweise im Dunkeln. Die Ursachen waren ein verknapptes Angebot an Kohle 2021 und eine Dürre 2022. Seitdem steht die Energiesicherheit ganz oben auf der Prioritätenliste der chinesischen Machthaber – und gesichert werden soll die Stromversorgung vorerst hauptsächlich durch Kohle. Auch für den anstehenden Sommer rechnen chinesische Experten wieder mit Dürren. Diese könnten erneut zu Engpässen führen, weil Wasserkraftwerke nur mit reduzierter Kapazität arbeiten können.
Kohleabbau wird gesteigert
Im April gab die Regierung bekannt, dass China im laufenden Jahr 4,75 Milliarden Tonnen Kohle fördern will. Gegenüber 2022 wäre das ein Plus von zwei Prozent. Zügig sollten in den kommenden Monaten neue Bergwerke genehmigt werden, erklärten die Beamten, eine Praxis, die die Behörden bereits seit 2021 verfolgen. Im vergangenen Jahr erlaubte sie zudem den Bau neuer Kohlekraftwerke mit einer Gesamtleistung von 106 Gigawatt. Im Vergleich zu 2021 war das eine Vervierfachung.
Auch in der Inneren Mongolei geht die Kohleförderung offenbar unvermindert weiter. Im Umland von Ordos quälen sich überall hoch mit Kohle beladene Lkw über die holprigen Strassen. Nicht selten verstopfen Kolonnen von mehr als zwanzig Lastern die Fahrspuren.
Dennoch sind sich die meisten Experten einig, dass China seine ehrgeizigen Klimaziele erreichen wird. Ab 2030 sollen demnach die Kohlendioxid-Emissionen sinken, bis 2060 will China klimaneutral sein, also nicht mehr schädliches Kohlendioxid ausstossen, als es in der Lage ist zu absorbieren. «Die Frage ist eher, ob und wie viel früher China die Ziele erreichen wird», sagt der Umweltschützer Ma. Mit Blick auf die gegenwärtige Politik seien die Herausforderungen eher grösser, vorzeitig die Zielmarken zu erreichen. «Gefährdet sind die Klimaziele aber nicht», sagt auch Nis Grünberg, Experte am Mercator Institute for China Studies (Merics) in Berlin.
Rasanter grüner Ausbau
Grund für den Optimismus ist Chinas zügiger Ausbau der erneuerbaren Energien. Zwar erzeugt das Land noch immer 63 Prozent seines Stroms mithilfe von Kohle. Gleichzeitig aber tragen Sonne, Wind und Wasserkraft insgesamt 28 Prozent zur Stromerzeugung bei. Und der Ausbau soll in grossen Schritten weitergehen. In diesem Jahr will China Wind- und Solarkraftanlagen mit einer Kapazität von 160 Gigawatt installieren, ein neuer jährlicher Rekord. Im vergangenen Jahr betrug der Zuwachs bei Wind- und Solarkraft 125 Gigawatt. Gemäss einer Prognose von Standard & Poor’s Global wird China 2050 62 Prozent seines Stroms durch erneuerbare Energien erzeugen.
Auch und vor allem in der Inneren Mongolei wollen die Behörden den Ausbau vorantreiben. Weite Landstriche der Provinz sind unbewohnt und eignen sich deshalb für den Bau von Wind- und Solarparks, wie sie etwa in der Wüste bei Dalat entstehen. Um den Ausbau zu beschleunigen, siedeln die Behörden immer weitere Unternehmen aus der Umweltbranche in der Region an. Eines von ihnen ist Zhuzhou Times, ein Tochterunternehmen des staatlichen Eisenbahnbauers CRRC. Ausserhalb der Kohlestadt Ordos fertigt die Firma seit 2019 Rotorblätter für Windkraftanlagen.
Auf beiden Seiten der staubigen Landstrasse, die zum Fabrikgelände führt, liegen aufgereiht fast 100 Meter lange, rot und weiss lackierte Rotorblätter, bereit zum Abtransport. Hinter den Mauern des Werks laufen Arbeiter durch rund drei Meter hohe Vorrichtungen, die sich durch die gesamte Halle ziehen. In den Gestellen liegen die halbfertigen grün grundierten Blätter. Die Arbeiter bringen mehrere Schichten eines Hightech-Gemischs auf, das die Rotorblätter auch vor extremen Wetterereignissen wie Hagel schützt.
Und Zhuzhou Times drückt bei der Fertigung aufs Tempo, auch weil es die Regierung so will. «Wir haben bereits 16 Produktionslinien», sagt der Werksleiter, «und es sollen noch zwölf dazukommen.» In die Erweiterung des Werks will der Staatskonzern noch einmal umgerechnet rund 255 Millionen Franken investieren.
Seit der Inbetriebnahme des Produktionsstätte im August 2019 habe die Firma bereits 7500 Blätter gefertigt, erklärt der Betriebsleiter. Liefe das Werk ununterbrochen, was durchaus möglich ist, wären das fast sechs pro Tag – chinesisches Tempo. Derzeit produziert Zhuzhou noch 96 Meter lange Rotorblätter für Onshore-Windkraftanlagen. Demnächst will die Firma auch die Produktion von 120 Meter langen Blättern für den Offshore-Betrieb aufnehmen.
Probleme bei der Übertragung
Doch der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien ist nicht ohne Tücken. Chinas Stromnetze sind trotz einigen Verbesserungen in den vergangenen Jahren noch nicht für die starken Schwankungen bei der Stromerzeugung aus Wind und Sonne ausgelegt. Ausserdem verfügt das Land über kein zusammenhängendes Stromübertragungsnetz, sondern über mehrere einzelne Netze. Strom, der etwa in der Inneren Mongolei erzeugt wird, kann somit nicht ohne weiteres in die Ballungszentren im Süden übertragen werden. «Die Integration der Netze geht noch immer sehr schleppend voran», sagt Merics-Experte Grünberg.
Ein Problem, das auch Wang Xiaojing von der NDRC in Dalat beschäftigt. Das riesige Solarkraftwerk in der Wüste, das der Beamte verantwortet, speist den erzeugten Strom bis jetzt ausschliesslich in die Netze der Inneren Mongolei. So würden 20 Prozent der Bevölkerung von Dalat mit dem dort erzeugten Strom versorgt, sagt Wang. «Wenn das Netz aber erst ausgebaut ist, wollen wir den Strom auch nach Hebei schicken», so der Beamte. Hebei ist die Provinz, die die Hauptstadt Peking umschliesst.
Langfristig setzt China Hoffnungen in neue Technologien zum Speichern von Strom. Doch obwohl das Land bei der Batterie-Technologie weltweit führend ist, sei man von Energiespeichern, die die grossen durch Wind und Sonne erzeugten Strommengen aufbewahren könnten, noch weit entfernt, sagt der Experte Ma. Bis heute arbeitet China wie viele andere Länder mit Pumpspeicherkraftwerken. Bei diesen wird Wasser mithilfe des erzeugten Stroms in die Höhe gepumpt. Bei Bedarf lässt man das Wasser in die Tiefe stürzen, wobei es wieder Strom produziert.
Die Abhängigkeit bleibt
In Zukunft dürfte es China gelingen, den Anteil, den die Kohle zur Stromerzeugung beisteuert, zu reduzieren. Denn das Land wird die Kapazitäten zur Stromgewinnung aus erneuerbaren Energien weiter ausbauen und vermutlich auch bessere Technologien zur Speicherung der Elektrizität entwickeln. Trotzdem wird das Riesenreich zur Sicherung der Grundlast, sollte die Sonne mal nicht scheinen und der Wind nicht blasen, immer auf Kohle angewiesen sein, denn davon gibt es im Land reichlich.
Woran es in China hingegen mangelt, ist Gas. Wegen der geopolitischen Spannungen hat China derzeit zunehmend Probleme, im Ausland, etwa von Australien, Flüssiggas zu beziehen. Der Experte Ma sagt: «Würde sich die Situation entspannen und China in grossem Stil Flüssiggas im Ausland einkaufen können, könnte es die Klimaziele ganz sicher früher erreichen.»
Samuel Misteli, Nairobi
Sie ist so gross wie 4000 Fussballfelder, hat über 19 Milliarden Dollar gekostet und wurde von 40 000 Arbeitern gebaut: Die Dangote-Raffinerie, die Ende Mai am Rand von Nigerias Metropole Lagos eingeweiht worden ist, ist eine Ansammlung von Superlativen. Sie ist benannt nach Aliko Dangote, dem Initianten und reichsten Mann Afrikas, und soll Nigerias Volkswirtschaft auf die Beine helfen.
Nigerias Wirtschaft ist zwar die grösste des Kontinents, aber dysfunktional. Ihr grösstes Problem: Weil die drei staatlichen Raffinerien seit Jahren fast stillstehen, kann Nigeria sein Erdöl nicht im Land raffinieren. Es wird exportiert, im Gegenzug importiert Nigeria Benzin, Diesel und Kerosin. 2022 gab die Regierung 23 Milliarden Dollar für Treibstoffimporte aus – mehr als für Bildung und Gesundheit.
Das soll sich nun ändern. Bei der Eröffnung am 22. Mai sagte Aliko Dangote, seine Raffinerie solle der «Tragödie» der Importabhängigkeit ein Ende setzen. An der Zeremonie nahmen neben Nigerias Präsident Muhammadu Buhari mehrere andere afrikanische Präsidenten teil. Buhari übergab sein Amt eine Woche später seinem Nachfolger, die Eröffnung war auch ein Abschiedsgeschenk für den Präsidenten, den politisch mächtigsten Unterstützer der Raffinerie.
Ein Game-Changer?
Die Raffinerie ist ein Denkmal aus Stahl, das sich Aliko Dangote hat bauen lassen. Der 66-Jährige ist mit Zement und Zucker zum Milliardär geworden, seine Dangote-Gruppe wuchs ab den 1970er Jahren von einer kleinen Handelsfirma zum grössten Industriekonzern Afrikas. Das Raffinerieprojekt begann Dangote vor sieben Jahren. Der Start wurde mehrmals verschoben, unter anderem verzögerte die Corona-Pandemie den Bau. Die Raffinerie ist auch jetzt nicht komplett betriebsbereit: In Werbevideos sind neben glänzenden Tanks und Pipelines auch viele Kräne zu sehen. Aliko Dangote kündigte die Inbetriebnahme für Juli oder August an – Experten halten das für sehr ehrgeizig.
Erreicht die Raffinerie ihre volle Kapazität, kann sie 650 000 Fass Treibstoff pro Tag herstellen. Sie würde den gesamten Bedarf Nigerias – eines Landes mit über 200 Millionen Einwohnern – decken; rund 40 Prozent der Produktion sollen in den Export gehen.
Nigeria ist Afrikas grösster Erdölproduzent, die Industrie macht rund 90 Prozent der Exporteinnahmen des Landes aus. Doch sie leidet an einem Grundübel vieler afrikanischer Volkswirtschaften: Man exportiert nur den unverarbeiteten Rohstoff, könnte aber deutlich mehr verdienen, wenn man ihn selber verarbeiten würde. Nigerias Ölinfrastruktur krankt an Korruption und schlechtem Unterhalt, die staatlichen Raffinerien hätten in den vergangenen Jahren mit mehreren Milliarden Dollar saniert werden sollen, doch ein Teil des Geldes verschwand spurlos. Nigerias Parlament hat eine Untersuchung angekündigt.
Auch Diebstahl und Schmuggel von Rohöl bremsen Nigerias Ölindustrie. Mehr als 10 Prozent der Fördermenge werden gestohlen, zum Beispiel durch das Anzapfen von Pipelines. Der Staat verliert dadurch jedes Jahr Milliarden Dollar an Einnahmen. Am Diebstahl verdienen Tausende mit – von kleinen Öldieben im Nigerdelta, der mit Abstand wichtigsten Förderregion, über korrupte Politiker bis zu internationalen kriminellen Organisationen.
Aliko Dangotes Raffinerie soll nun die Wende bringen. Die Raffinerie sei ein Game-Changer, sagte der scheidende Präsident Buhari in seiner Rede bei der Eröffnung. Tatsächlich ist der Ölsektor seit der Feier bereits dramatisch in Bewegung geraten – an der Raffinerie lag das aber nicht.
Eine Woche nach der Eröffnung trat Nigerias neuer Präsident Bola Tinubu sein Amt an. In seiner Antrittsrede kündigte er an, die Treibstoffsubventionen aufzuheben, die den Benzinpreis in Nigeria seit den 1970er Jahren künstlich tief halten. Die Subventionen kosteten den Staat 2022 knapp zehn Milliarden Dollar. Die meisten Politiker und Ökonomen in Nigeria sind sich einig, dass die ruinösen Subventionen abgeschafft gehören, doch diese sind bei der Bevölkerung beliebt. Letztmals versuchte eine Regierung 2012 die Subventionen aufzuheben – um nach Protesten zurückzukrebsen.
Die neue Regierung wagt nun wieder einen Anlauf. Die Folge von Tinubus Ankündigung war Panik. Innerhalb von Stunden verdoppelten oder verdreifachten Tankstellen an vielen Orten im Land die Benzinpreise; vor den Zapfsäulen bildeten sich lange Schlangen, Leute standen mit Plastikkanistern an, um sich möglichst viel Benzin zu sichern, solange es noch subventioniert ist.
In der Folge erhöhten auch Nah- und Fernverkehrsbusse ihre Fahrpreise. Das traf Millionen von Nigerianerinnen und Nigerianern hart – eine Mehrheit der Bevölkerung gibt mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Transport und Nahrung aus. Nigerianische Medien berichteten, in der Metropole Lagos seien Pendler zu Fuss unterwegs, wegen der höheren Fahrpreise und die Schlangen an den Tankstellen den ohnehin zähen Verkehr noch zusätzlich behinderten.
Die 133 Millionen Armen leiden
Die höheren Transportpreise haben wiederum dazu geführt, dass die Preise einzelner Lebensmittel gestiegen sind. Dies in einem Moment, in dem die Inflation bereits rekordhoch ist und laut dem nationalen Statistikbüro zwei Drittel der Bevölkerung – oder 133 Millionen Menschen – in Armut leben. Die grösste Gewerkschaft des Landes drohte mit einem landesweiten Streik, und selbst der nigerianische Ableger von Amnesty International schaltete sich ein: «Präsident Bola Tinubus Entscheid, die Treibstoffsubventionen abzuschaffen, hat Millionen von Nigerianern in Angst versetzt», hiess es in einer Mitteilung.
Nigerias Wirtschaft ist also in eine Abwärtsspirale geraten, kurz nachdem das grösste Industrieprojekt des Landes endlich lanciert worden war und die Wende zum Besseren hätte einläuten sollen. Für viele Nigerianerinnen und Nigerianer kann es nicht schnell genug gehen, bis Dangotes Raffinerie auf Touren kommt.
René Höltschi, Berlin, Michael Rasch, Frankfurt
«Wir werden diesen Sumpf austrocknen!»: Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), ist nie um Beleidigungen verlegen, wenn es um Kritik an den Arbeitgebern, namentlich der Deutschen Bahn (DB), geht. Den zitierten Satz sagte er Anfang Juni bei der Ankündigung der GDL-Forderungen für die im Herbst anstehenden Tarifverhandlungen. Die DB reagierte trocken: «Wir haben die Forderungen der GDL zur Kenntnis genommen und werden diese zu gegebener Zeit prüfen und bewerten», sagte eine Sprecherin. Im Fokus stünden derzeit die Verhandlungen mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Die Tarifverträge der GDL würden noch bis einschliesslich Oktober laufen, bis dahin gelte auch die Friedenspflicht.
Erstarkte Gewerkschaften
Während die hohe deutsche Inflationsrate von zuletzt 6,1 Prozent (Mai) sowie deutliche Reallohnverluste die Tarifverhandlungen in allen Branchen härter werden lassen und der Arbeitskräftemangel den Gewerkschaften überall einen stärkeren Hebel in die Hand gibt, kommt bei der Bahn ein weiterer Faktor hinzu: Hier konkurrieren mit der GDL und der EVG zwei Gewerkschaften um Mitglieder. Gelegentlich gifteln sie sogar öffentlich gegeneinander.
In Fällen solcher Konkurrenz sieht das Tarifeinheitsgesetz seit 2015 vor, dass der Tarifvertrag jener Gewerkschaft zur Anwendung kommt, die in einem bestimmten Betrieb mehr Mitglieder hat. Massgeblich ist nicht die Konzernebene, sondern die einzelne Betriebsebene. Bei der DB, die gut 300 Betriebe umfasst, hat die EVG bei weitem die Nase vorn: Laut DB-Angaben kommen derzeit für rund 180 000 Beschäftigte die Tarifverträge der EVG und nur für etwa 10 000 Personen jene der GDL zur Anwendung.
Die GDL hat laut eigenen Angaben fast 40 000 Mitglieder, die EVG ist mit etwa 185 000 Mitgliedern per Ende 2022 deutlich grösser. Sie hat aber seit ihrer Entstehung 2010 zunächst Mitglieder verloren. Erst 2021 konnte sie wieder etwas zulegen, wobei sie einen Teil des Zuwachses 2022 bereits wieder verloren hat.
In dieser Lage sind hart geführte Tarifverhandlungen einschliesslich Streiks das entscheidende Mittel, um Mitglieder zu gewinnen. Bisher hat sich dabei vor allem die GDL unter Weselsky lautstark hervorgetan. Dieses Jahr ist allerdings auch die EVG, die seit Februar verhandelt, forsch unterwegs. Sie hat bereits zwei grossangelegte Warnstreiks durchgeführt, ein dritter wurde in letzter Minute durch einen Vergleich abgewendet.
Doch wer fordert mehr? Die EVG verlangt für eine Laufzeit des Tarifvertrags von einem Jahr 12 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 650 Euro mehr für jeden Mitarbeiter. Letzteres betrifft die unteren Lohngruppen, die mit einer Erhöhung von 12 Prozent kein Lohnplus von 650 Euro erreichen würden. Zudem verweisen die Verhandlungsführer der EVG darauf, dass die Gewerkschaft in der vorangegangenen Tarifrunde während der Pandemie mit einer Lohnsteigerung von 1,5 Prozent deutliche Zurückhaltung geübt habe. Die EVG habe jedoch immer deutlich gemacht, dass es deshalb Nachholbedarf gebe.
Die GDL wiederum fordert eine allgemeine Lohnerhöhung von 555 Euro, eine Erhöhung der Zulagen für Schichtarbeit um 25 Prozent sowie eine steuerfreie Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 3000 Euro, Letztgenannte unabhängig davon, ob es sich um Teilzeit- oder Vollzeitarbeitnehmer handelt. Darüber hinaus verlangt der GDL-Chef Weselsky eine Reduktion der Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden pro Woche für Schichtarbeiter bei gleichbleibendem Lohn. Dazu kommen weitere Forderungen wie 5 Prozent Arbeitgeberanteil für die betriebliche Altersvorsorge und die Einführung der Fünf-Schichten-Woche. Die Laufzeit des Tarifvertrages soll maximal zwölf Monate betragen. Die beiden Pakete seien in Summe schwierig vergleichbar, sagen mehrere mit dem Thema vertraute Personen.
Kampfansage an die DB
Weselsky wäre aber nicht Weselsky, würde er nicht ein weiteres Schäufelchen drauflegen. So hat er bei seinem Eröffnungsauftritt nicht nur hohe Forderungen gestellt, sondern die Branche auch mit der Gründung der Genossenschaft «Fair Train e. G.» per 2. Juni überrascht. Diese soll als Zeit- oder Leiharbeitsfirma im Bereich Arbeitnehmerüberlassung tätig werden, qualifizierte Lokführer anziehen und diese der DB sowie anderen Bahnbetrieben «zu fairen Bedingungen» zur Verfügung stellen. Die Gewinne daraus sollen den Genossenschaftern zufliessen.
Der Gewerkschaftschef erklärte an der Pressekonferenz explizit, damit sage man «diesem DB-Konzern glasklar den Kampf an». Er fügte den eingangs zitierten Satz hinzu und forderte die Gewerkschaftsmitglieder auf, erstens Genossenschaftsanteile zu zeichnen und zweitens sich von Fair Train anstellen zu lassen. Man wolle nur der DB, nicht deren Konkurrenten, Lokomotivführer entziehen. Zeitarbeitsfirmen, die (auch) Lokomotivführer vermitteln, gibt es bereits, und sie werden bei Engpässen vor allem im Güterverkehr auch genutzt. Laut Stoffregen ist die Bedeutung aber gering, zumal diese Lösungen sehr teuer seien. In der Branche sind die Meinungen über die Erfolgsaussichten des GDL-Vorstosses noch nicht gemacht. Stoffregen und weitere Gesprächspartner äussern sich indessen eher skeptisch. So wird etwa darauf verwiesen, dass es keine arbeitslosen Lokführer gebe. Fair Train müsste sie deshalb aus festen Anstellungen abwerben, was nicht einfach sein dürfte. Zudem könne man einen Lokführer nicht ohne weiteres auf jeder Strecke einsetzen, er brauche Streckenkenntnis.
Zunächst aber stehen die Tarifrunden an. Ab Montag verhandelt die EVG erneut über mehrere Tage mit der DB. Der Konzern bietet inzwischen je nach Lohngruppe in Stufen zwischen 8 und 12 Prozent mehr Gehalt sowie eine abgaben- und steuerfreie Inflationsausgleichsprämie, beharrt jedoch auf einer Laufzeit von 24 Monaten. Im Herbst beginnen dann die Gespräche zwischen GDL und DB. Erst wenn sich beide Gewerkschaften mit dem Konzern geeinigt haben, können Bahnkunden einigermassen sicher sein, das keine weitere Streiks drohen