Aktuell
Consenec Impuls im Segelhof, Dättwil
«Consenec Impuls»: erleben wir den zweiten Kalten Krieg?
News | Zürich | 2023-11-15. Ist der Krieg gegen die Ukraine vor dem Hintergrund eines Kalten Krieges zwischen liberalen Demokratien und autoritären Systemen zu verstehen? Auf Einladung von Consenec analysierte Dr. Marcel Berni, Historiker an der ETH Zürich, die prägende Krise in Europa.
«Die Wahrheit ist immer das erste Opfer im Krieg», so Marcel Berni zum Auftakt seines Referats am ABB-Standort Segelhof in Dättwil am vergangenen Donnerstag. Der Militärhistoriker ist Dozent an der ETH und ein viel gefragter Experte bei der Analyse des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Deshalb seien Auslegungen aus der Ferne schwierig, er werde auch keine Prognose zum Ausgang dieses Krieges wagen.
Liberale Demokratien gegen autoritäre Systeme
Seine einleitende Fragestellung aber, ob wir in einem zweiten Kalten Krieg zwischen liberalen Demokratien und revisionistischen, autoritären Systemen leben, war recht rasch beantwortet – durch den Originalton der beiden wichtigsten Protagonisten auf autoritärer Seite: Chinas Präsident Xi Jinping besuchte Russlands Präsident Vladimir Putin am 22. März in Moskau.
Ingo Fritschi, Geschäftsleiter der Consenec AG (links), stellt Gastreferent Marcel Berni vor.
Aufschlussreiche Abschiedsbemerkung
Von ihrer Verabschiedung gibt es eine wacklige Aufnahme mit Tonspur. Xi: «Gemeinsam sollten wir diese Veränderungen vorantreiben, wie es sie seit 100 Jahren nicht mehr gegeben hat.» Putin: «Dem stimme ich zu.» Es gibt wenig Interpretationsspielraum, welche Veränderungen sie forcieren wollen: eine neue Weltordnung zu etablieren, die sich gegen die bestehende richtet, die in ihren Augen – noch – von den USA und ihren demokratischen Verbündeten dominiert wird.
Krieg als Mittel der Politik
«Putin glaubte, dass der Westen bereits schwächer geworden ist, worauf er den Angriff auf die Ukraine wagte», so Berni. Ereignisse wie der überstürzte Abzug aus Afghanistan, der Sturm auf das Capitol in Washington oder die diffusen Verwerfungen in manchen Demokratien während der Pandemie hätten in ihm diesen Eindruck hinterlassen. Wobei Putin Krieg schon immer als Mittel der Politik verstanden habe, wie die Kriege in Tschetschenien und im Kaukasus sowie das Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg gezeigt haben.
Nicht intendierte Folgen
Bei der Widerstandsfähigkeit der Ukraine wie auch der Reaktion des Westens auf den Angriff habe sich Putin aber weitgehend getäuscht. «Es war sicher nicht in seinem Interesse, dass die Ostsee mit dem erfolgten Beitritt Finnlands und dem baldigen Eintreten Schwedens in das Militärbündnis gewissermassen zum Mare Nostrum der NATO wird», so Berni.
Marcel Berni ist seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs ein viel gefragter Interviewpartner in Schweizer Medien.
Rivalität nimmt zu
Die Unterstützung durch China aber, sowie durch die weniger bedeutenden Verbündeten Iran und Nordkorea – und die relative Neutralität gewichtiger Länder wie Indien, Südafrika oder Brasilien – spielen ihm in die Karten. Die Rivalität mit dem liberalen Westen, dessen Energie für die Unterstützung der Ukraine zusehends schwächer wird, nimmt zu.
Unübersichtliche Weltlage
Berni zog denn auch Vergleiche zum ersten Kalten Krieg, mit dem damaligen heissen Krieg der beiden Blöcke in Korea. Oder einem möglichen künftigen Konflikt um Taiwan, der an die Kubakrise gemahnen könnte. Dass aktuell der Konflikt in Israel einen weiteren Brandherd mit ungewissen Folgen für den Nahen Osten bildet, färbt das Gesamtbild nicht positiver. Immerhin treffen sich aktuell US-Präsident Joe Biden und Chinas Präsident Xi Jinping, um Spannungen abzubauen und Kommunikationskanäle zu öffnen. Reale Konsequenzen hat die globale Situation auch für die Schweiz, etwa mit der Erhöhung der Ausgaben für die Armee, wie der Militärhistoriker betonte.
Kein Ende der Geschichte
Die kommenden Monate und Jahre werden zeigen, wie sich die geopolitischen Verhältnisse entwickeln werden. Das «Ende der Geschichte», mit dem globalen Triumph des Liberalismus, mit Demokratie und Marktwirtschaft allenthalben ist jedenfalls ferner, als viele es sich am Ende des ersten Kalten Krieges erhofft hätten.